M. Stuber u.a.: Hüeterbueb und Heitisträhl

Cover
Titel
Hüeterbueb und Heitisträhl. Traditionelle Formen der Waldnutzung in der Schweiz 1800 bis 2000


Autor(en)
Stuber, Martin; Bürgi, Matthias
Reihe
Bristol-Schriftenreihe 30
Erschienen
Bern 2011: Haupt Verlag
Anzahl Seiten
302 S. + DVD
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Mark Bertogliati

Im 19. Jahrhundert führte der Perspektivenwechsel im Rahmen der modernen Forstwissenschaften dazu, dass die Rolle der traditionellen Waldnutzungen oft verzerrt und instrumentalisiert wurde. Die sogenannten «Nebennutzungen», die eigentlich für die ländliche Bevölkerung eine zentrale Bedeutung für agrarische, hauswirtschaftliche und kleingewerbliche Zwecke hatten, wurden im Fokus der Forstmodernisierer zunehmend als schädlich für die Waldentwicklung gehalten. Diese Ansichten hinterliessen tiefe Spuren in der klassischen Forstgeschichtsschreibung. Die neue Tendenz der Forstgeschichte – auch dank den wichtigen Impulsen der Sozialgeschichte und der Historischen Ökologie – hat dazu geführt, dass der Wald nun als ein Ort der ständigen Evolution betrachtet wird, nicht nur aus ökologischer Sicht, sondern auch im Spiegel der Wahrnehmung und Bedürfnisse der Gesellschaft.

Diese Studie hat den Zweck, die Vielfalt und die Entwicklung der traditionellen Formen der Waldnutzung im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte in der Schweiz zu dokumentieren. Dabei werden fünf Regionen der Deutschschweiz im Bereich der Voralpen und des Alpenbogens näher betrachtet. Der Ansatz findet sich dort, wo Forstgeschichte, Umweltgeschichte, «Oral History» und Historische Ökologie zusammentreffen. Die Veränderungen und Ablösungsprozesse der traditionellen Waldnutzungen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts weisen beträchtliche Variationen auf, abhängig von Verwendungsarten, historischen Entwicklungen und räumlichen Kontexten. In den Bergen begann der Rückgang einiger traditioneller Waldnutzungen viel später als zum Beispiel im Mittelland. Aus diesem Grund dürfen Berggebiete als eine Art «Refugium» für die Nutzungsvielfalt betrachtet werden – eine Vielfalt, die oftmals nur noch im Gedächtnis der älteren Bergbewohner aufbewahrt ist.

Insgesamt wurden 56 Interviews durchgeführt und mit Informationen aus Wirtschaftsplänen, Forstreglementen und regionalen Geschichtsschreibungen vervollständigt. Hiermit stellen die Autoren uns einen spannenden Einblick in fast vergessene Arbeitstechniken und dem dazugehörigen traditionellen Wissen vor, wobei wir Regionen mit verschiedensten natürlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, Volkstrachten und historischen Entwicklungen entdecken. Die Autoren haben 60 Waldnutzungen dokumentiert, worunter die häufigsten z.B. der Gewinn von Brennholz, das Rechen von Laubstreu und das Sammeln von Beeren, so wie auch seltenere oder regionalspezifische (dennoch relevant aus ökologischer Sicht) wie z.B. die Bettlaubnutzung, die Köhlerei oder das Sammeln von Nadelstreu. Die Nutzungsvielfalt äussert sich auch im Wortschatz der verschiedenen Dialekte mit denen Techniken, Werkzeuge und Waldprodukte beschrieben werden. Die lange Liste der Aktivitäten, Produkte und Verwendungen zeigt uns nicht nur die Anpassungsfähigkeit und Schöpfungskraft der damaligen Bauerngesellschaft, sondern auch das Nutzungspotential des Waldes.

Der gewählte Forschungsansatz ist sowohl wirkungsvoll als auch erforderlich. Wirkungsvoll, weil das Thema gleichzeitig von einer Innen- und einer Aussenperspektive betrachtet wird. Erforderlich, weil die konkrete Gefahr besteht, dass das traditionelle Wissen zu einzelnen Waldnutzungsformen verloren geht. In unserem Zeitalter erhalten diese Kenntnisse noch eine andere Bedeutung, denn nebst dem historischen und ethnologischen Wert dieses Erfahrungswissen ist es auch äusserst wichtig, die längerfristigen Entwicklungsdynamiken innerhalb von anthropogen geprägten Waldökosystemen näher zu betrachten. Die Dokumentation der Waldnutzungsänderungen dient in diesem Sinn als eine wesentliche Grundlage für die zukünftige waldbauliche Planung und Förderung einer Biodiversität, die nicht nur in Naturwaldreservaten zu suchen sein wird.

Die Anregungen in dieser Studie, die gut strukturiert und für ein heterogenes Publikum zugänglich ist, erscheinen wahrhaft vielfältig. Die Handlungen, die von Stuber und Bürgi rekonstruiert wurden, sind anschaulich beschrieben und mit vielen sorgfältig ausgewählten Bildvorlagen bereichert. Interdisziplinarität ist hier konkret und ihre Wirkung gut messbar, gerade weil der Mangel an Primärquellen eine pragmatische Vorgehensweise erzwingt. Ihrerseits beinhalten die Aussagen der Zeitzeugen eine extreme Originalität und haben bewirkt, dass die Autoren die Bedeutung von schriftlichen Quellen etwas hinterfragt haben. Zum Beispiel betonen viele Gewährsleute die Kontraste zwischen amtlichen Quellen und üblichen Gewohnheiten («Manchmal ist es noch gut, wenn man etwas macht was verboten ist», p.156) oder besondere Formen der Selbstregulation (siehe z.B. die Berichte über Harzgewinnung). Diese Quervergleiche sind für eine eingehende Quellenkritik erforderlich.

Zum Schluss – und die Autoren sind sich dessen sehr bewusst – bleibt das Konzept «Traditionelle Waldnutzung» im Grunde abstrakt, genau so wie die Grenze zwischen Wald und Offenland in den Aussagen der Zeitzeugen (auch ein Zeichen, dass die Landschaft weniger banalisiert wurde als es heute oft der Fall ist) und trotz jeglicher – auch wenn nützliche und gerechtfertigte – Abgrenzungsund Klassifikationsversuche. Weiter, so die Autoren, soll auch das Konzept «Tradition» nicht als etwas Statisches und Ahistorisches betrachtet werden. Die Techniken, Nutzungen und Verwendungsweisen, genauso wie die Landschaftsgrenzen, ändern sich stetig mit den Bedürfnissen der Gesellschaft und je nach Umstand und Verfügbarkeit von Ersatzprodukten und Alternativen. Was sind also die Besonderheiten, die eine Waldnutzung «traditionell» machen? Welche Relevanz hat in unserem «Zeitalter des raschen Wandels» das traditionelle Wissen zur Waldnutzung? Dieses Buch und der beigelegte Dokumentarfilm von Rahel Grunder liefern viele Antworten und Interpretationsmöglichkeiten.

Zitierweise:
Mark Bertogliati: Rezension zu: Martin Stuber, Matthias Bürgi: Hüeterbueb und Heitisträhl. Traditionelle Formen der Waldnutzung in der Schweiz 1800 bis 2000. Bern/Stuttgart/Wien, Haupt, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 350-351

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 350-351

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